Fischer Schatzinsel / Der Babysitter-Profi
Roman
Frisch gewickelt ist halb gewonnen
Ein Jugendbuch von der Autorin von 'Simpel'
Der fünfzehnjährige Ernest ist zwar megapleite, will aber auch megadringend einen neuen Computer haben. Ein Job muss her! Und wer sagt eigentlich, dass Babysitten nur was...
Ein Jugendbuch von der Autorin von 'Simpel'
Der fünfzehnjährige Ernest ist zwar megapleite, will aber auch megadringend einen neuen Computer haben. Ein Job muss her! Und wer sagt eigentlich, dass Babysitten nur was...
Leider schon ausverkauft
Buch (Kartoniert)
12,99 €
6 PAYBACK °Punkte sammeln
-
30 Tage kostenlose Retoure
-
Paypal (Express), Kauf auf Rechnung, Kreditkarte, Lastschrift
Produktdetails
Produktinformationen zu „Fischer Schatzinsel / Der Babysitter-Profi “
Klappentext zu „Fischer Schatzinsel / Der Babysitter-Profi “
Frisch gewickelt ist halb gewonnenEin Jugendbuch von der Autorin von 'Simpel'
Der fünfzehnjährige Ernest ist zwar megapleite, will aber auch megadringend einen neuen Computer haben. Ein Job muss her! Und wer sagt eigentlich, dass Babysitten nur was für Mädchen ist? Apropos Mädchen ... Noch so eine Baustelle in Ernests Leben ...
Marie-Aude Murail ist eine außergewöhnliche Erzählerin für junge Leser. Ihr wunderbar leichter Ton wird getragen von tiefem Respekt vor dem Schicksal und einer bedingungslosen Sympathie für ihre Figuren. Stets warmherzig und verständnisvoll blickt sie ihren Helden ins Herz und lässt ihre Leser ganz unmittelbar miterleben, wie seltsam, wie traurig und schön das Leben zuweilen so spielt.
Großformatiges Paperback. Klappenbroschur
Lese-Probe zu „Fischer Schatzinsel / Der Babysitter-Profi “
Der Babysitter-Profi von Marie-Aude Murail1
Ich stürze mich ins Babysitten
Als ich den Computer von Xavier Richard sah, wusste
ich, dass ich auch so einen brauchte.
»Sonst noch was?«, fragte meine Mutter.
»Klar, Videospiele. Xavier hat eine ganze Ladung davon. Lauter Kampfspiele.«
»Sehr witzig.«
»Und der Computer gehört nur Xavier, es gibt nämlich noch einen anderen für die ganze Familie«, schob ich nach.
»Hör mal, wenn man schon Richard heißt, ist man prädestiniert. Sein Kinderwagen war bestimmt von Rolls Royce, oder?«
»Sehr witzig«, sagte ich meinerseits.
Meine Mutter rannte hektischer als nötig in der Küche rum, um eine Schale Lasagne in die Mikrowelle zu befördern. Ich weiß sehr gut, dass ich sie nerve, wenn ich ständig was will. Aber mit 15 Euro Taschengeld im Monat bin ich der finanzielle Loser der Schule.
»Schließlich bekomme ich nicht mal den Inflationsausgleich «, sagte ich noch hinter dem Rücken meiner Mutter.
Mama drehte sich langsam um. Wenn ich merke, dass sie wütend ist, dann weiche ich manchmal ein bisschen zurück, ich weiß nicht, warum. Ich bin doch kein kleines Kind mehr. Wir sind jetzt fast gleich groß.
»Wenn du so dringend Geld brauchst«, sagte sie leise, »warum verdienst du dann keins?«
»Ach nein, danke! 20 Cent fürs Mülleimerleeren. Seh ich so aus?«
»Ja, du passt doch ganz gut zu den Mülleimern!«
»Schon klar, ich habe ja auch eine Schönheitskönigin als Mutter ...«
... mehr
Wir haben uns angestarrt und gelacht, weil wir uns in Sachen Schönheit wirklich nichts geben. So ist das mit meiner Mutter und mir. Wir nerven uns, schreien, schreien. Alle befürchten das Schlimmste, wüste Beschimpfungen bis aufs Blut, Ohrfeigen. Am Ende lachen wir.
»Mach es wie Martine-Marie«, schlug Mama vor. »Sie ist Babysitterin.«
Martine-Marie ist das Patenkind von Mama, sie ist gewissermaßen ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen ist. Irgendwann wachsen ihr noch Flügel.
»Gibt's das überhaupt, männliche Babysitter?«, fragte ich misstrauisch.
»Falls es das noch nicht gibt, dann brauchst du die Mode ja nur einzuführen«, antwortete meine Mutter entschieden.
Meine Mutter muss es ja wissen, sie arbeitet in der Modebranche. Ständig ist sie völ-lig überlas-tet. Ich habe beschlossen, dass ich lieber altmodisch bin. So habe ich alle-Zeit-der-Welt.
In Montigny (wo ich wohne) bekommt ein Babysitter in meinem Alter fünf Euro die Stunde. Ein Computer wie der von Richard kostet 899 Euro. 899 also geteilt durch 5 bedeutet, dass ich mir nach 180 Stunden Babysitten meinen Computer kaufen kann. Wenn man berücksichtigt, dass ich montags nicht babysitten kann, weil ich zum Filmclub gehe, dass mittwochs der Tag vor Donnerstag ist, wo ich früh aufstehen muss, dass mich samstags meine Mutter sehen will, dass ich sonntags zweimal im Monat Volleyball-Turniere habe, kann ich mir ausrechnen, dass ich im Altersheim bin, bis ich endlich Mario Kart spielen kann.
»Wenn du 400 Euro selbst verdienst, zahle ich dir den Rest«, sagte Mama.
400 also geteilt durch 5, macht 80 Stunden. Wenn ich, sagen wir mal, 8 Stunden pro Woche babysitte, in wie viel Wochen kann ich dann ...
»Jetzt lass doch den Taschenrechner, Ernest!«, rief Mama genervt. »Ruf lieber Martine-Marie an. Sie hat ganz viele Adressen.«
Und so fing alles an. Meinen ersten Job als Babysitter hatte ich bei Madame Jacqueline Grumeau. Sie machte ein langes Gesicht, als sie mich vor ihrer Tür sah.
»Kommen ... Kommen Sie von Martine-Marie?«
Ich nickte bescheiden.
»Sind Sie verwandt?«
Ich spürte, dass es sie beruhigen würde, wenn Martine- Marie und ich Cousins wären. Der Cousin eines solchen Engels ist an sich schon eine Empfehlung.
»Ach!«, rief Madame Grumeau überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass Martine-Maries Mama eine Schwester hat.«
»Eine Zwillingsschwester«, präzisierte ich, um sie vollends zufriedenzustellen.
»Ach, ich dachte mir schon, Sie haben große Ähnlichkeit mit Martine-Marie. Kommen Sie doch rein.«
Madame Jacqueline Grumeau hatte zwei Töchter: Anne- Sophie (sieben Jahre) und Anne-Laure (fünf Jahre).
»Sie gehen um 20 Uhr 30 ins Bett«, erklärte mir ihre Mama. »Dann muss das Nachtlicht von Anne-Sophie angemacht werden, und Anne-Laure braucht ein Glas Wasser neben ihrem Bett. Ich habe Ihnen die Telefonnummer vom Notarzt, vom Polizeirevier, der Feuerwehr, dem Transfusionsnotdienst, dem Krankenwagen und der Giftzentrale dagelassen.«
Mir war, als hätte Madame Grumeau kein uneingeschränktes Vertrauen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich professionell. »Ich habe Erfahrung.«
»Arbeiten Sie oft als Babysitter?«, fragte mich Madame Grumeau und entspannte sich zusehends.
Also los, noch eine kleine Lüge, die letzte.
»Ich passe oft auf Ludovic auf.«
»Auf Ludovic?«
»Das ist mein Cousin. Er ist vier Jahre alt.«
Madame Grumeau war hingerissen. Sie war auf den Babysitter-Weltmeister aller Klassen gestoßen.
Ihre Töchter wirkten deutlich weniger zufrieden. Anne- Sophie sah mich schief an.
»Bist du der, der auf uns aufpasst?«
Anne-Laure brach in Tränen aus.
»Das will ich nicht! Ich will Martine-Marie! Uääähh!«
Wenn es etwas gibt, was ich nicht ertrage, dann ist es ein heulendes Kind.
»Gut jetzt, sei still! Jetzt sei doch still!«
Ich habe sie ein bisschen geschüttelt, damit sie still ist. Sie fing an zu brüllen.
»Du bist böse! Ich will meine Mama!«
Ich nahm die Liste mit den Telefonnummern. Sollte ich die Feuerwehr anrufen oder die Giftzentrale? Ach, sieh an, eine Idee.
»Wenn du nicht still bist«, drohte ich, »dann rufe ich den Polizisten an. Deine Mutter hat mir die Nummer gegeben.«
»Ist gar nicht wahr«, murmelte Anne-Laure beeindruckt.
Uff, die Krise war vorüber.
»Und jetzt ab ins Bett!«, verkündete ich fröhlich.
»Und was ist mit der Geschichte?«, fragte Anne-Sophie empört.
»Welche Geschichte?«
»Martine-Marie erzählt uns immer eine Geschichte! Das ist die Geschichte von einem kleinen grünen Hasen, der seine Eltern verloren hat.«
»Der heißt Löffelhase«, fügte Anne-Laure hinzu.
»Das stimmt nicht«, sagte ich. »Die Geschichte kenne ich. Der Hase heißt Ranflanflan-vom-Dornenstall. Er hat einen Todfeind, der heißt Jedermann-von-Augenstern. Und seine Eltern braucht Ranflanflan nicht zu suchen: Sie sind in Ferien im Robinson Club.«
»Aber die kommen doch wieder, oder?«, erkundigte Anne-Laure sich besorgt.
»Am Ende der Woche mit dem 12-Uhr-07-Zug«, antwortete ich. »Und wenn du noch nie braungebrannte Hasen gesehen hast, brauchst du nur am Bahnhof auf sie zu warten.«
»Und Jedermann-von-Augenstern, ist der böse?«, fragte mich Anne-Sophie.
»Sehr böse.«
»Böse wie was?«
»Böse wie ein Wolf, wie ein menschenfressender Riese, wie sechsunddreißigtausend Hexen. Haa! Haa! Haa!«
Und so erzählte ich den beiden um zehn Uhr abends noch immer von diesem Idioten Ranflanflan und seinem Todfeind.
»Kennst du noch andere Geschichten von Ranflanflan?«, brabbelte Anne-Laure, als sie einschlief. »Dreihunderttausend.« »Die erzählst du uns alle, nicht?« »Alle.« Ich schwor mir gerade noch, dass ich nie Familienvater werden würde, als ich auch schon auf dem Teppichboden einschlief.
Madame Jacqueline Grumeau hatte mich eiligst all ihren Freundinnen empfohlen, so zufrieden waren ihre Töchter mit mir gewesen. Daher klingelte ich an meinem zweiten Abend als Kindermädchen an der Tür von Madame Durieux. Auf wen ich wohl diesmal aufpassen würde? Ein junges Mädchen öffnete mir.
»Ich bin der Babysitter«, stellte ich mich vor. »Ich möchte zu Madame Durieux.«
Das junge Mädchen sah mich mit großen Augen an.
»Aber das bin ich.«
»Ach so. Ich hatte Sie für Ihre Tochter gehalten.«
Madame Durieux lachte ein bisschen blöd. Sie sah nicht so aus, als hätte sie den tiefen Teller erfunden.
»Ich gehe mit meinem Mann in den Filmclub«, sagte sie, griff nach ihrer Tasche und ging zur Tür.
»Aber ... wo sind die Kinder?«, rief ich sie zurück.
»Anthony?«, fragte Madame Durieux erstaunt. »Oh, der schläft. Mit sechs Monaten schlafen die ständig.«
»Ach so? Und die Telefonnummer von der Feuerwehr, vom Notarzt und das alles ...?«
Die arme Madame Durieux sperrte den Mund so weit auf wie die Augen. Sie begriff wirklich nicht, was ich wollte.
»Ich hab die Nummer von der Taxizentrale«, sagte sie schließlich als letzte Lösung.
»Das ist ja schon mal was«, antwortete ich. »Da kann ich dann wenigstens ein Taxi nehmen, um die Feuerwehr zu benachrichtigen, falls es brennt.«
In Madame Durieus Augen flackerte so etwas wie Intelligenz.
»Du bist ja lustig!«, rief sie. »Entschuldige, ich bin zu spät.«
Und klack!, schlug sie mir die Tür vor der Nase zu.
Klar bin ich lustig, dachte ich, als ich ins Wohnzimmer ging. Wenn man hässlich ist und vergessen hat, dass man einen Vater hat, will man die ganze Welt zum Lachen zu bringen.
Ich sah mich um. Was für ein Durcheinander! Überall Möbel, hässliche Sessel wie dicke Kröten, Stoffblumen und Plastikobst, ein künstliches Holzscheit im Kamin mit einem roten Licht, damit es so aussieht, als glimme die Glut. Argh! Ich ließ mich aufs Sofa fallen.
»Gut, es gibt einen Fernseher«, sagte ich laut zu mir, um mir wieder Mut zu machen.
Wenigstens würde kein Ranflanflan auf dem Abendprogramm stehen. Ich drückte den Einschaltknopf. Es lief Frankreich-Belgien. Besser als nichts. Nach zehn Minuten stand es immer noch 0:0. War da nicht ein leises Geräusch aus dem hinteren Zimmer zu hören?
»Bestimmt täusch ich mich«, murmelte ich.
Aber das leise Geräusch bestätigte sich und verwandelte sich plötzlich in ein sehr, sehr lautes Geräusch. Der Kleine brüllte! Ich sprang auf. Bestimmt erstickte der Junge gerade, weil er sein Kopfkissen futterte. Doch, doch, so was ist schon mal passiert. Ich rannte in das Zimmer, machte Licht und riss den Kleinen aus seinem Bett. Erst schüttelte ich ihn vorsichtig, dann drehte ich ihn aufs Geratewohl kopfüber. Als ich ihn wieder aufrichtete, brüllte er nicht mehr, er sah mich an, Augen und Mund weit aufgesperrt.
»Na, Kumpel, wie geht's?«, fragte ich ihn, immer noch zitternd.
Und da - oh, Katastrophe! - fing er wieder an zu brüllen. Ich hätte ihn beinahe wieder in sein Bett gelegt und wäre davongerannt. Aber mir schoss eine Idee durch den Kopf. Um Babys zum Schlafen zu bringen, singt man ihnen Schlaflieder vor!
»Also, ein Schlaflied«, murmelte ich, während ich den Jungen schüttelte. »Ähh... Ach ja, das, das Mama mir immer vorgesungen hat.«
Anscheinend (meine Erinnerung an diese Zeit ist sehr ungenau, ich muss in dieser Sache Aussagen Dritter vertrauen), anscheinend wollte ich mit zwei Monaten abends nie einschlafen. Ich litt unter schrecklichen Koliken. Ich persönlich erinnere mich an nichts. Aber meine Mutter hat mir versichert, dass sie mir stundenlang das folgende kleine poetische Wiegenlied vorgesungen hatte:
Wohin ging das Würmelein, Würmlein fein, Würmlein fein, Wohin ging das Würmelein, Würmlein so allein?
Ich sag euch lieber gleich, dass es auf die Frage keine Antwort gibt.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Wir haben uns angestarrt und gelacht, weil wir uns in Sachen Schönheit wirklich nichts geben. So ist das mit meiner Mutter und mir. Wir nerven uns, schreien, schreien. Alle befürchten das Schlimmste, wüste Beschimpfungen bis aufs Blut, Ohrfeigen. Am Ende lachen wir.
»Mach es wie Martine-Marie«, schlug Mama vor. »Sie ist Babysitterin.«
Martine-Marie ist das Patenkind von Mama, sie ist gewissermaßen ein Engel, der vom Himmel herabgestiegen ist. Irgendwann wachsen ihr noch Flügel.
»Gibt's das überhaupt, männliche Babysitter?«, fragte ich misstrauisch.
»Falls es das noch nicht gibt, dann brauchst du die Mode ja nur einzuführen«, antwortete meine Mutter entschieden.
Meine Mutter muss es ja wissen, sie arbeitet in der Modebranche. Ständig ist sie völ-lig überlas-tet. Ich habe beschlossen, dass ich lieber altmodisch bin. So habe ich alle-Zeit-der-Welt.
In Montigny (wo ich wohne) bekommt ein Babysitter in meinem Alter fünf Euro die Stunde. Ein Computer wie der von Richard kostet 899 Euro. 899 also geteilt durch 5 bedeutet, dass ich mir nach 180 Stunden Babysitten meinen Computer kaufen kann. Wenn man berücksichtigt, dass ich montags nicht babysitten kann, weil ich zum Filmclub gehe, dass mittwochs der Tag vor Donnerstag ist, wo ich früh aufstehen muss, dass mich samstags meine Mutter sehen will, dass ich sonntags zweimal im Monat Volleyball-Turniere habe, kann ich mir ausrechnen, dass ich im Altersheim bin, bis ich endlich Mario Kart spielen kann.
»Wenn du 400 Euro selbst verdienst, zahle ich dir den Rest«, sagte Mama.
400 also geteilt durch 5, macht 80 Stunden. Wenn ich, sagen wir mal, 8 Stunden pro Woche babysitte, in wie viel Wochen kann ich dann ...
»Jetzt lass doch den Taschenrechner, Ernest!«, rief Mama genervt. »Ruf lieber Martine-Marie an. Sie hat ganz viele Adressen.«
Und so fing alles an. Meinen ersten Job als Babysitter hatte ich bei Madame Jacqueline Grumeau. Sie machte ein langes Gesicht, als sie mich vor ihrer Tür sah.
»Kommen ... Kommen Sie von Martine-Marie?«
Ich nickte bescheiden.
»Sind Sie verwandt?«
Ich spürte, dass es sie beruhigen würde, wenn Martine- Marie und ich Cousins wären. Der Cousin eines solchen Engels ist an sich schon eine Empfehlung.
»Ach!«, rief Madame Grumeau überrascht. »Ich wusste gar nicht, dass Martine-Maries Mama eine Schwester hat.«
»Eine Zwillingsschwester«, präzisierte ich, um sie vollends zufriedenzustellen.
»Ach, ich dachte mir schon, Sie haben große Ähnlichkeit mit Martine-Marie. Kommen Sie doch rein.«
Madame Jacqueline Grumeau hatte zwei Töchter: Anne- Sophie (sieben Jahre) und Anne-Laure (fünf Jahre).
»Sie gehen um 20 Uhr 30 ins Bett«, erklärte mir ihre Mama. »Dann muss das Nachtlicht von Anne-Sophie angemacht werden, und Anne-Laure braucht ein Glas Wasser neben ihrem Bett. Ich habe Ihnen die Telefonnummer vom Notarzt, vom Polizeirevier, der Feuerwehr, dem Transfusionsnotdienst, dem Krankenwagen und der Giftzentrale dagelassen.«
Mir war, als hätte Madame Grumeau kein uneingeschränktes Vertrauen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte ich professionell. »Ich habe Erfahrung.«
»Arbeiten Sie oft als Babysitter?«, fragte mich Madame Grumeau und entspannte sich zusehends.
Also los, noch eine kleine Lüge, die letzte.
»Ich passe oft auf Ludovic auf.«
»Auf Ludovic?«
»Das ist mein Cousin. Er ist vier Jahre alt.«
Madame Grumeau war hingerissen. Sie war auf den Babysitter-Weltmeister aller Klassen gestoßen.
Ihre Töchter wirkten deutlich weniger zufrieden. Anne- Sophie sah mich schief an.
»Bist du der, der auf uns aufpasst?«
Anne-Laure brach in Tränen aus.
»Das will ich nicht! Ich will Martine-Marie! Uääähh!«
Wenn es etwas gibt, was ich nicht ertrage, dann ist es ein heulendes Kind.
»Gut jetzt, sei still! Jetzt sei doch still!«
Ich habe sie ein bisschen geschüttelt, damit sie still ist. Sie fing an zu brüllen.
»Du bist böse! Ich will meine Mama!«
Ich nahm die Liste mit den Telefonnummern. Sollte ich die Feuerwehr anrufen oder die Giftzentrale? Ach, sieh an, eine Idee.
»Wenn du nicht still bist«, drohte ich, »dann rufe ich den Polizisten an. Deine Mutter hat mir die Nummer gegeben.«
»Ist gar nicht wahr«, murmelte Anne-Laure beeindruckt.
Uff, die Krise war vorüber.
»Und jetzt ab ins Bett!«, verkündete ich fröhlich.
»Und was ist mit der Geschichte?«, fragte Anne-Sophie empört.
»Welche Geschichte?«
»Martine-Marie erzählt uns immer eine Geschichte! Das ist die Geschichte von einem kleinen grünen Hasen, der seine Eltern verloren hat.«
»Der heißt Löffelhase«, fügte Anne-Laure hinzu.
»Das stimmt nicht«, sagte ich. »Die Geschichte kenne ich. Der Hase heißt Ranflanflan-vom-Dornenstall. Er hat einen Todfeind, der heißt Jedermann-von-Augenstern. Und seine Eltern braucht Ranflanflan nicht zu suchen: Sie sind in Ferien im Robinson Club.«
»Aber die kommen doch wieder, oder?«, erkundigte Anne-Laure sich besorgt.
»Am Ende der Woche mit dem 12-Uhr-07-Zug«, antwortete ich. »Und wenn du noch nie braungebrannte Hasen gesehen hast, brauchst du nur am Bahnhof auf sie zu warten.«
»Und Jedermann-von-Augenstern, ist der böse?«, fragte mich Anne-Sophie.
»Sehr böse.«
»Böse wie was?«
»Böse wie ein Wolf, wie ein menschenfressender Riese, wie sechsunddreißigtausend Hexen. Haa! Haa! Haa!«
Und so erzählte ich den beiden um zehn Uhr abends noch immer von diesem Idioten Ranflanflan und seinem Todfeind.
»Kennst du noch andere Geschichten von Ranflanflan?«, brabbelte Anne-Laure, als sie einschlief. »Dreihunderttausend.« »Die erzählst du uns alle, nicht?« »Alle.« Ich schwor mir gerade noch, dass ich nie Familienvater werden würde, als ich auch schon auf dem Teppichboden einschlief.
Madame Jacqueline Grumeau hatte mich eiligst all ihren Freundinnen empfohlen, so zufrieden waren ihre Töchter mit mir gewesen. Daher klingelte ich an meinem zweiten Abend als Kindermädchen an der Tür von Madame Durieux. Auf wen ich wohl diesmal aufpassen würde? Ein junges Mädchen öffnete mir.
»Ich bin der Babysitter«, stellte ich mich vor. »Ich möchte zu Madame Durieux.«
Das junge Mädchen sah mich mit großen Augen an.
»Aber das bin ich.«
»Ach so. Ich hatte Sie für Ihre Tochter gehalten.«
Madame Durieux lachte ein bisschen blöd. Sie sah nicht so aus, als hätte sie den tiefen Teller erfunden.
»Ich gehe mit meinem Mann in den Filmclub«, sagte sie, griff nach ihrer Tasche und ging zur Tür.
»Aber ... wo sind die Kinder?«, rief ich sie zurück.
»Anthony?«, fragte Madame Durieux erstaunt. »Oh, der schläft. Mit sechs Monaten schlafen die ständig.«
»Ach so? Und die Telefonnummer von der Feuerwehr, vom Notarzt und das alles ...?«
Die arme Madame Durieux sperrte den Mund so weit auf wie die Augen. Sie begriff wirklich nicht, was ich wollte.
»Ich hab die Nummer von der Taxizentrale«, sagte sie schließlich als letzte Lösung.
»Das ist ja schon mal was«, antwortete ich. »Da kann ich dann wenigstens ein Taxi nehmen, um die Feuerwehr zu benachrichtigen, falls es brennt.«
In Madame Durieus Augen flackerte so etwas wie Intelligenz.
»Du bist ja lustig!«, rief sie. »Entschuldige, ich bin zu spät.«
Und klack!, schlug sie mir die Tür vor der Nase zu.
Klar bin ich lustig, dachte ich, als ich ins Wohnzimmer ging. Wenn man hässlich ist und vergessen hat, dass man einen Vater hat, will man die ganze Welt zum Lachen zu bringen.
Ich sah mich um. Was für ein Durcheinander! Überall Möbel, hässliche Sessel wie dicke Kröten, Stoffblumen und Plastikobst, ein künstliches Holzscheit im Kamin mit einem roten Licht, damit es so aussieht, als glimme die Glut. Argh! Ich ließ mich aufs Sofa fallen.
»Gut, es gibt einen Fernseher«, sagte ich laut zu mir, um mir wieder Mut zu machen.
Wenigstens würde kein Ranflanflan auf dem Abendprogramm stehen. Ich drückte den Einschaltknopf. Es lief Frankreich-Belgien. Besser als nichts. Nach zehn Minuten stand es immer noch 0:0. War da nicht ein leises Geräusch aus dem hinteren Zimmer zu hören?
»Bestimmt täusch ich mich«, murmelte ich.
Aber das leise Geräusch bestätigte sich und verwandelte sich plötzlich in ein sehr, sehr lautes Geräusch. Der Kleine brüllte! Ich sprang auf. Bestimmt erstickte der Junge gerade, weil er sein Kopfkissen futterte. Doch, doch, so was ist schon mal passiert. Ich rannte in das Zimmer, machte Licht und riss den Kleinen aus seinem Bett. Erst schüttelte ich ihn vorsichtig, dann drehte ich ihn aufs Geratewohl kopfüber. Als ich ihn wieder aufrichtete, brüllte er nicht mehr, er sah mich an, Augen und Mund weit aufgesperrt.
»Na, Kumpel, wie geht's?«, fragte ich ihn, immer noch zitternd.
Und da - oh, Katastrophe! - fing er wieder an zu brüllen. Ich hätte ihn beinahe wieder in sein Bett gelegt und wäre davongerannt. Aber mir schoss eine Idee durch den Kopf. Um Babys zum Schlafen zu bringen, singt man ihnen Schlaflieder vor!
»Also, ein Schlaflied«, murmelte ich, während ich den Jungen schüttelte. »Ähh... Ach ja, das, das Mama mir immer vorgesungen hat.«
Anscheinend (meine Erinnerung an diese Zeit ist sehr ungenau, ich muss in dieser Sache Aussagen Dritter vertrauen), anscheinend wollte ich mit zwei Monaten abends nie einschlafen. Ich litt unter schrecklichen Koliken. Ich persönlich erinnere mich an nichts. Aber meine Mutter hat mir versichert, dass sie mir stundenlang das folgende kleine poetische Wiegenlied vorgesungen hatte:
Wohin ging das Würmelein, Würmlein fein, Würmlein fein, Wohin ging das Würmelein, Würmlein so allein?
Ich sag euch lieber gleich, dass es auf die Frage keine Antwort gibt.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Marie-Aude Murail
Marie-Aude Murail stammt aus einer Schriftstellerfamilie aus Le Havre, Frankreich, und studierte Philosophie an der Sorbonne. Sie zählt zu den beliebtesten zeitgenössischen Kinder- und Jugendbuchautorinnen Frankreichs und wurde mit zahlreichen Preisen geehrt. Für ihr Gesamtwerk erhielt sie 2022 die höchste internationale Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur, den Hans Christian Andersen-Preis. Ihr Roman 'Simpel' wurde mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Ihre Jugendbücher erscheinen auf Deutsch exklusiv bei Fischer.Literaturpreise:Gesamtwerk:Hans-Christian Andersen-Preis 2022'Simpel'Ausgezeichnet mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis 2008 (Jugendjury)Empfehlungsliste des Katholischen Kinder- und Jugendbuchpreises 2008Jugendbuchpreis 2008 der Jury der Jungen Leser (Altersstufe 13/14)'Das ganz und gar unbedeutende Leben der Charity Tiddler'Die besten 7 Bücher, Januar 2012'Vielleicht sogar wir alle'Auswahlliste des Heinrich-Wolgast Preises'Ein Ort wie dieser'Platz 3 Landshuter Jugendbuchpreises 2015 Tobias Scheffel, 1964 in Frankfurt am Main geboren, studierte Romanistik, Geschichte und Geographie an den Universitäten Tübingen, Tours (Frankreich) und Freiburg. Seit 1992 arbeitet er als literarischer Übersetzer aus dem Französischen und lebt in Freiburg im Breisgau. 2011 wurde er für sein Gesamtwerk mit dem Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises ausgezeichnet.Literaturpreise:2011: Deutscher Jugendliteraturpreis, Sonderpreis für das Gesamtwerk als literarischer Übersetzer
Produktdetails
- Autor: Marie-Aude Murail
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2013, 2. Aufl., 320 Seiten, Maße: 12,5 x 20,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzer: Tobias Scheffel
- Verlag: FISCHER KJB
- ISBN-10: 3596854903
- ISBN-13: 9783596854905
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
Schreiben Sie einen Kommentar zu "Fischer Schatzinsel / Der Babysitter-Profi".
Kommentar verfassen